EU: Bündnis für ein kindersicheres Internet

unwatched.org: Bündnis für ein kindersicheres Internet

netzpolitik.org: Koalition führender Technologie- und Medienunternehmen will Internet sicherer und freundlicher für unsere Kinder machen

Nach einem Aufruf im Sommer 2011 durch EU-Kommissarin Neelie Kroes, wurde am  1. Dezember 2011 die „CEO-Coalition to make the Internet a better Place for Kids“ gegründet. Diese Koalition deckt die gesamte Wertschöpfungskette des Internet ab. Seine 30 Mitglieder sind  Apple, BSkyB, BT, Dailymotion, Deutsche Telekom, Facebook, France Telecom – Orange, Google, Hyves, KPN, Liberty Global, LG Electronics, Mediaset, Microsoft, Netlog, Nintendo, Nokia, Opera Software, Research In Motion, RTL Group, Samsung, Skyrock, Stardoll, Sulake, Telefonica, TeliaSonera, Telecom Italia, Telenor Group, Tuenti, Vivendi und Vodafone.

In der von den Mitglieder der Koalition unterzeichneten Erklärung zu Sinn und Zweck und in der Aufgabenplanung werden fünf Arbeitsfelder augelistet: Einfache Melde-Tools für schädliche Inhalte oder Kontakte, altersgemäße Privatsphäre-Einstellungen, eine Ausweitung des Gebrauchs von Inhaltsklassifizierungen (nach Alter), eine größere Verfügbarkeit und Anwendung von Jugendschutzsoftware und die effektive Löschung von Inhalten, die den Missbrauch von Kindern darstellen.

Die Koalition hat sich kürzlich interessierten Dritten geöffnet, dazu gebe es in den letzten zwei Wochen Beratungen zu allen fünf Arbeitsfeldern. Erstmal erscheint es vom Standpunkt der Zivilgesellschaft lobenswert, wenn sich die Industrie so sehr um die Sicherheit von Kindern im Internet sorgt. Es gibt allerdings einige signifikante Punkte, an denen dieses Unterfangen scheitern könnte. Im Moment macht die EU-Kommission der Industrie viel Druck, “Ergebnisse” vorzuweisen.

Zum Beispiel ging ein Kommissionsvertreter während einer Sitzung zur effektiven Entfernung (“Takedown”) von Darstellungen sexuellen Kindesmissbrauchs (engl. Child Abuse Material, kurz CAM) soweit, sich über den verspürten Widerstand und die geäußerten Bedenken zu beschweren. Er erklärte, dass zu viel über Bürgerrechte gesprochen würde und zu wenig über das, was tatsächlich getan werden kann. Das einzige Problem bei der Forderung der Kommission zu einer effektiveren Entfernung ist (wie sie in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage bestätigte), dass bislang noch kein Beweis dafür erbracht wurde, dass die derzeitigen Praktiken nicht funktionieren. Dies ist umso erstaunlicher, da die Kommission Statistiken in Auftrag gegeben und für diese bezahlt hat.

Weiterhin betonte der Kommissionsvertreter, dass obwohl Mitgliedstaaten Zugangsanbieter nicht dazu verpflichten können, Deep Packet Inspection (DPI) zu nutzen, sie dies aber natürlich auf „freiwilliger Basis“ sehr wohl tun könnten. Es ist an der Zeit, dass die Rechtsabteilung der EU-Kommission beauftragt wird, zu analysieren, ob die Werbung für “Selbstregulierung” angemessen ist – dies sind oft Maßnahmen, die gegen die Europäische Grundrechtecharta sowie gegen die Urteile des Europäischen Gerichtshofes in Sachen Scarlet/Sabam und Netlog/Sabam verstoßen würde, wenn sie gesetzlich umgesetzt würden.

Übrigens versucht die EU-Kommission im Moment anscheinend eine Neuinterpretation von “Takedown” und “löschen (removal)” von illegalen oder vermeintlich illegalen Inhalten. “Löschen” bedeutet im Sinne der Kommission, dass spezifische Inhalte vollständig und von allen Orten im Internet entfernt werden, auch an bisher unbekannten Orten, obwohl diese Interpretation während der Ausarbeitung der Richtlinie über Kindesmissbrauch nie diskutiert wurde.

Die Betonung des “effektiveren Entfernens” übersieht jedoch komplett, dass das Entfernen nur ein Symptom bekämpft – unbestätigten Berichten aus den USA zufolge werden für 80% aller Löschungen von gemeldeten Darstellungen sexuellen Kindesmissbrauchs keine polizeilichen Ermittlungen eingeleitet. Die EU selbst erhebt keine Statistiken über dieses Phänomen. Anstatt also den Missbrauch und die Ursachen für die Entstehung solcher Bilder zu bekämpfen, dienen die derzeit diskutierten Maßnahmen lediglich dazu, Darstellungen dieses Missbrauchs zu verstecken. Dieser Ansatz ist mit dem vergleichbar, was in Familien geschieht, in denen Missbrauch stattfindet – wo jeder lieber weg schaut, als tatsächlich etwas zu unternehmen und wo alle Energie in Leugnung anstatt in Hilfe für die Betroffenen gebunden wird.

Der gesamte Prozess und der Start der Koalition sind zudem mit dem politischen Ballast der Vergangenheit überfrachtet. Von außen betrachtet sieht es so aus, als wäre die Safer Internet Unit (DG INFSO E6) unter Druck, die tiefgehenden Probleme aus dem Weg zu räumen, die unter der früheren Leitung entstanden sind, um noch vor Ende der Amtszeit der derzeitigen Kommission “irgendetwas” vorzulegen. Der offensichtlichste Ansatz wäre jedoch gewesen, aus den Erfahrungen der verschiedenen Mitgliedstaaten mit bereits identifizierten Probleme und Ergebnissen zu lernen.

Zugleich scheint es dieser Koalition aber an Konzentration auf spezifische und als zu lösende bekannte Probleme zu mangeln. Stattdessen geht die Diskussion jedes Mal von vorne los, als würden bisherige Erfahrungen nichts wert sein. Die Debatte um Melde-Tools für schädliche Inhalte führte zum Beispiel zu einer Diskussion über Aussehen und Platzierung von Melde-Buttons, aber nicht zu Überlegungen wie mit den gemeldeten schädlichen Inhalten und Belästigungen umzugehen ist. Im Lichte der Enthüllungen, wie Facebook mit gemeldeten anstößigen Inhalten umgeht, ist das ein sehr ernster Punkt, auch wenn die Kommission an diesem Punkt nicht über bürgerliche Freiheiten und Grundrechte sprechen will.

Durch den Druck wird riskiert, dass die Koalition in eine Situation versetzt wird, in der sie einfach nur noch „irgendetwas abliefern“ will. Das erzeugt ein Umfeld, in dem so offenbar idiotische Vorschläge gemacht werden, wie zum Beispiel alle Windows-Computer beim nächsten automatischen Windows-Update nach kriminellen Inhalten (in diesem Falle Darstellungen sexuellen Missbrauchs) zu scannen. Oder eine Whitelist von Webseiten für das gesamte europäische Internet zu erstellen (zur Bekämpfung der Darstellung sexuellen Missbrauchs im Web). Unglücklicherweise wurden der Iran und China nicht zu dem Treffen eingeladen, um zu erklären, wie man solche Vorhaben am besten und effizientesten umsetzt.

Man könnte zusätzlich allerdings auch den Eindruck bekommen, dass ein Teil der Koalition immer noch versucht herauszufinden, worum es bei dieser Übung überhaupt geht – vor allem da es viele als Wiederholung der verschiedenen vergangenen Anhörungsverfahren im “Safer Internet Program” sehen. Einige Mitspieler scheinen die Koalition zudem als Chance zu begreifen, wirtschaftliche Vorteile gegenüber Konkurrenten zu erlangen.

Die Diskussionen um das Melden und Entfernen von illegalen oder – möglicherweise – schädlichen Inhalten (zwei sehr verschiedene Kategorien) verdienen besondere Aufmerksamkeit, eine Diskussion an dieser Stelle würde aber vor allem nur die Argumente aus den Sperrdebatten der Jahre 2009 (Deutschland) und 2010/2011 (EU) wiederholen.

Womit beschäftigt sich also die Koalition?

1. Die Umsetzung von Jugendschutz im Internet wird forciert. Das umfasst die Umseztung in der Netzinfrastruktur (der Zugangsanbieter) als eine Art Einheitslösung: Passend für alle Religionen, alle Altersgruppen, alle Familien. Dies wird sicherlich keine optimale Lösung sein, weil es für den Endnutzer immer einfacher sein wird, seine Geräte so zu konfigurieren wie er es für richtig erachtet, statt den Zugangsanbieter das Netzwerk so konfigurieren zu lassen, dass es für alle angebundenen Familien passt.

Abseits von diesen fundamentalen Problemen bei der Verankerung von Jugendschutz im Netzwerk, wird dieser Ansatz unweigerlich zu Lösungen führen, die die Netzneutralität verletzen, datenschutzrechtliche Probleme aufwerfen und das Recht auf freie Meinungsäußerung bedrohen. Hier müssen dringend die anderen Teile der EU-Kommission wie Justiz und Grundrechte und Verbraucherschutz einbezogen werden.

Sämtliche auf Netzwerkebene umgesetzte Einschränkungen (besonders die erwähnten DPI gegen Kindesmissbrauchsmaterial) werden unweigerlich die Aufmerksamkeit der Urheberrechtsindustrie auf sich ziehen, die seit langem großes Interesse am Einsatz dieser Technologie hat. Obwohl sich die Koalition dieser Gefahr zumindest nicht völlig unbewusst zu sein scheint, scheint sie sie nicht sehr ernst zu nehmen. Liest man einige der Antworten auf die Konsultation zur Überarbeitung der Richtlinie zur Durchsetzung der persönlichen Eigentumsrechte (IPR Enforcement Directive), sehen einige Mitglieder der Koalition vielleicht sogar gar keine Bedrohung hinter dem großen Interesse der Urheberrechtsindustrie.

Das bringt die Generaldirektion Informationsgesellschaft der EU-Kommission in eine Position, in der sie (als Safer Internet Unit) der Mobilfunkindustrie für das Eingreifen in Datenströme Beifall spendet,(welches wahrscheinlich Art. 52 der EU-Charta widerspricht, da sich kein Nachweis findet, das damit ein Ziel der allgemeinen Interesses verfolgt wird) und sie zugleich (durch die Teile der Kommission die für den Erhalt eines freien Wettbewerbs zuständig sind) drängt, sich aus den Datenströmen, ihr eigenes Geschäft betreffend, herauszuhalten.

2. Wie Kroes im Oktober 2011 erwähnte, gibt es Interesse für altersangemessene Privatsphäre-Einstellungen auch im Sinne von “privacy by default” für Kinder und Jugendliche.

Interessanterweise umfasst das Anliegen zur Kinder-Privatsphäre nur Daten, die Nutzer mit anderen Nutzern der selben Plattform teilen, nicht aber Daten, die von der Plattform selbst erhoben und verarbeitet werden. Im Kontext der Koalition scheint Facebook gleichbedeutend mit dem Begriff “soziales Netzwerk” zu sein und hat den Vorsitz der Arbeitsgruppe II “Altersangemessene Privatsphäreneinstellungen”. Facebook scheint darüber zu sprechen zu wollne, welche Daten gesammelt und wie Nutzer beim Besuch anderer Websites über seine “social plugins” getrackt werden.

Zusätzlich scheint es einen Wettstreit zwischen “altersangemessenen Privatsphäre-Einstellungen”, dem Prinzip der “informierten Zustimmung” und “elterlichem Einverständnis” für die Bearbeitung der Daten von Kindern in sozialen Netzwerken zu geben. Einige industrielle Interessensvertreter sind in der Vergangenheit weiter als Facebook gegangen, indem sie Systeme eingeführt haben, in denen aktiv nach der elterlichen Zustimmung gefragt wird. Facebook scheint die Tatsache, das Kinder über ihr tatsächliches Alter lügen, absichtlich zu ignorieren. So können Kinder bei der Anmeldung die “altersangemessenen” Einstellungen einfach umgehen und sind dadurch bestimmten Risiken ausgesetzt.

Würde die Koaltition Datenschutz und Privatsphäre endlich ernst nehmen, würden sie sehr bald erkennen, dass es noch andere Gruppen gibt, die von einfacheren Privatsphäre-Einstellungen oder dem Prinzip der informierten Zustimmung profitieren könnten – wie zum Beispiel geistig Behinderte oder unter Vormundschaft stehende Menschen – es würden also nicht nur Kinder etwas davon haben, wenn an dieser Stelle einmal etwas richtig gemacht wird.

All diese schlechten Praktiken lassen auch die Tür für Forderungen offen, dass jedes Individuum, das mit dem Internet verbunden ist, eindeutig identifizierbar sein muss (natürlich um Kinder zu schützen).

3. Microsoft hat den Vorsitz der “Takedown”-Arbeitsgruppe übernommen, in der sie enthusiastisch ihre “PhotoDNA”-Software bewerben. PhotoDNA identifiziert effizient bereits vorher analysierte Bilder, die Missbrauch darstellen, selbst wenn diese geschnitten oder verzerrt wurden, und hat sicherlich einige positive Seiten – wie zum Beispiel bei der Nutzung der Software durch Hotlines, die so bekannte Bilder unmittelbar identifizieren können und diejenigen, die die Bilder analysieren müssen, einer geringerer Belastung aussetzen. Allerdings wurde (wie immer) in keiner Weise versucht, die eventuell negativen Auswirkungen eines weit verbreiteten Einsatzes der Software zu untersuchen. Wie hoch ist zum Beispiel das Risiko einen potentiell lukrativen Markt für die Erstellung neuer Bilder zu schaffen, wenn bereits “bekannte” Bilder automatisch erkannt werden?

4. Es gibt eine Debatte über die automatische Altersklassifizierung von Inhalten, in der pan-europäische Altersklassifikationssysteme, selbst für nichtlinearen Medien wie Websites, stark befürwortet werden.

Im Allgemeinen könnte die Koalition sich selbst ein bisschen mehr Raum für etwas Pluralismus gönnen. Es kann keine passende “Einheitslösung” geben. Andere Methoden der Kategorisierung von Inhalten, zum Beispiel (Text-)Labels, werden anscheinend abgelehnt. Studien, die auf eine höhere Akzeptanz für elterliche Anleitungssysteme hinweisen, anstatt Alterbeschränkungen vorzuschlagen, scheinen vorschnell ignoriert zu werden.

Vielleicht sollten wir die Koalition daran erinnern, dass die Erklärung zu Sinn und Zweck nicht in Stein gemeißelt ist. Die Ziele können erweitert oder auch gestrichen werden, wenn sie sich als unpraktisch oder nicht erstrebenswert erweisen, auch wenn dabei einiger Widerstand zu erwarten ist. Dies muss sogar geschehen, wenn die Koalition wirklich effektive und angemessene Lösungen finden will, die zu einem sichereren Internet für Kinder führen.

Die verschiedenen Arbeitsgruppen nehmen Vorschläge und Stellungnahmen aus der Zivilgesellschaft an.

Kontakt zur Koalition: INFSO-SAFERINTERNETCOALITION (at) ec.europa.eu. Wenn das nicht klappt, könnt Ihr über den Autor unter help.me.get.the.ceo.coalition.on.track (at) mogis-verein.de Kontakt mit der Kommission aufnehmen.

(*) Eine persönliche Bemerkung am Rande – als Vertreter einer Betroffenenorganisation (für Betroffene sexuellen Kindesmissbrauchs): Die meisten Kinder werden von ihren Eltern oder nahen Verwandten missbraucht. Wir wollen, dass für Kinder und Heranwachsende hilfreiche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Diese Kinder brauchen eher weniger elterliche Kontrolle als mehr.
Vielleicht sollte wir auch darüber reden, dass Jugendschutzlösungen nicht-überschreibbare Whitelists von Webseiten enthalten und zudem den Zugriff auf Seiten zu garantieren, die sich selbst als für Kinder hilfreich auszeichnen. Neben Hotlines sollten auch Themen wie sexuelle Selbstbestimmung, Verhütung von Geschlechtskrankheiten, Familienplanung und auch sexuelle Identität eingeschlossen werden. Unsere (MOGiS) Webseite würde vermutlich als für Heranwachsende unangebracht oder schädlich eingestuft werden, da sie Sexualität, Gewalt und Missbrauch behandelt. Und das, obwohl hilfreiche Informationen für Jugendliche angeboten werden, in denen ihr Leiden in einen Kontext gesetzt wird, mit der sie sich weniger allein fühlen und sie so vielleicht einen Weg finden, mit dem Erlebten zurechtzukommen.

Links:

Self regulation: responsible stakeholders for a safer Internet

Neelie Kroes’ speech at the Safer Internet Forum – Luxembourg (20.10.2011)

Digital Agenda: Coalition of top tech & media companies to make internet better place for our kids (1.12.2011)

Coalition to make the Internet a better place for kids – Statement of purpose

Safer Internet Programme :: Policy:: Public Consultation

Inside Facebook’s Outsourced Anti-Porn and Gore Brigade (16.02.2012)

Facebook in new row over sharing users’ data with moderators (3.03.2012)

Research on parental guidance (10.2011)

Summary of child exploitation Directive

Microsoft’s response to the review of the IPR Enforcement Directive (31.03.2011)

Commissioner Kroes’ speech on privacy (20.10.2011)

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